Mach mal Dein Fenster auf! Es riecht nach Herbst. Es ist Herbstzeit. Die von der gefährlichen Sorte. Die sich noch nicht so richtig bekennen kann. Die sich einfach noch ein bisschen am guten, alten Sommer festhält. Die es schafft, die Sonne noch mal aus dem Bett zu prügeln: Leuchte, Du Sau, leuchte!
Leistungskontrolle
Seit vier Milliarden Jahren scheint
Die Sonne schon an Himmel rum.
Insofern mag man’s ihr verzeihn,
Dass abends, wenn wir schlafen tun,
Auch uns ‚re Sonne untergeht,
Für ein paar Stunden nur, is klar,
Und anderswo am Himmel steht,
Denn morgens ist sie wieder da.
Von viel gereisten Menschen hört
Man, dass, wenn sie woanders strahlt,
Sie dort viel länger scheint. Das stört
Dann doch. Denn wofür bitte zahlt
Man Steuern, wenn die gelbe Sau
In and’ren UNO-Mitgliedstaaten
Feiern geht! Und hier, genau (!),
Erstmal den Rausch ausschläft. Wir warten!
Was erlaubt sich dieser Ball?
Wir sind ihr wohl nicht gut genug?
Im besten Fall nur zweite Wahl?
Bei voller Lichtgebühr? Betrug!
Drum stehn die Ältesten im Land
Am Morgen gern mal früher auf
Und kontrollier’n noch mal von Hand
Den festgelegten Sonnenlauf.
Hi. Für diejenigen, die heute zum ersten Mal reinhören: Mein Name ist Matthias, ich veranstalte hier so eine Art täglichen Podcast-Poetry-Slam und Herbst ist meine absolute Lieblingsjahreszeit. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass das für viele notorische Vers- und Reimschmiede der deutschen Poetry-Slam-Geschichte gilt. Schlag mal deinen Conrady auf und vergleiche die Anzahl und Qualität der Frühlings- und Aufbruch-Vers-Dingsies mit Anzahl und Qualität der Herbst- und Verfall-Vers-Dingsies. Oder in kurz: Performance-Battle zwischen Mörikes Blauem Band und Trakls Verfall. Für alle vom #TeamBlauesBand: Verpisst Euch. Aber ich merk gerade, ich muss das vielleicht noch mal ein wenig elaborieren, bevor ich wieder grundlos Menschen beschimpfe. Wobei: Mit grundlos meine ich nicht, dass ich keinen guten Grund habe. Sondern, dass der eine oder die andere den guten Grund aus Mangel an Vorbildung vielleicht einfach nicht kennen kann. What-ever, von vorne:
Erstens: Conrady. Lange Zeit eine Art Referenzkatalog relevanter deutscher Lyrik von Walter von der Vogelweide bis jertzt. Inzwischen wo Bücher vor allem auf eBay verotten, hat sich das auch wieder relativiert, aber sich einen gut erhaltenen Conrady anzuschaffen, hat noch niemandem geschadet und pimpt das Bücherbrett ordentlich auf.
Zweitens: Frühling versus Herbst. Okay, ich versuch dir gerade ins Gehirn zu gucken. Dein kulturrelativistisch geschultes 21st-Centrury-Brain ist bestimmt noch dabei, eine schlaue Antwort auf die plakative Scheiße zu formulieren, die ich gerade von mir gegeben habe. Und ja, es hast Recht. Und ja, natürlich ist die Frage Frühling vs. Herbst eine reine Geschmacksfrage und nein, das ändert überhaupt nichts an meiner Aussage: Frühlingsanbeter verpisst Euch.
Danke.
Und bevor ich zum Herbst zurückkomme: Gedichtesammlungen von alten weißen Conradies sind immer hegemonialer Abwehrkampf gegen kulturelle Gegenbewegungen, das ist mir schon klar. Doch: Vide, ut amici prope, sed hostes propius sint! = Schau, dass die Freunde nahe, aber die Feinde näher sind.
Huch, du bist ja noch da? Warum ist Herbst so ein Thema? Wahrscheinlich, weil wir Schreibtischtäter*innen sind. Und im Herbst, da kann man sich endlich ohne schlechtes Gewissen wieder auf den kuscheligen Stuhl vor dem Schreibtisch setzen und über die Realität in unseren Köpfen nachdenken. Dunkelheit in und außerhalb der Köpfe tut ihr übriges und es kommt einfach guter Hör- und Lesestoff dabei heraus. Aber wenig Lustiges. Und das ist okay. Für „lustig“ geh einfach schön nach Youtube hin, da kannst du Katzenbabys beim „Drollige-Dinge-Machen“ zugucken, bis die AfD Bundeskanzler ist und Katzenbabys verbietet. Das haben die nämlich vor. Steht 1:1 so in „Mein Kampf“. Informier Dich einfach mal.
Widerstehe der Semantik!
Widerstehe der Semantik
Des Altweibersommers nachzuhängen!
Schneller als du Semasiologie gegoogelt hast,
Hängt schon die erste reife Dame irgendwo am Baum
Und harrt der Ernte.
Fallobstschicksal zu entrinnen ist
Das oberste Gebot,
Denn:
Wer will eingekocht, zerteilt und vakuumverglast
In Kellern harren?
Denk ich hier als einziger
„Schneewittchen“?
What?
Widerstehe dem Alterweibersommer,
Dieser MILF der Jahreszeiten!
Hat das Beste schon erlebt und wartet auf den Sturm,
Die Ernte, auf das große Futtern und Verfüttert werden.
Nüsse fallen, Äpfel rotten und Kastanien platzen
Schier vor Neid, nur
Eckern buchen Korsika
Zu Nebensaisonpreisen
Plus Coronaabschlag.
Sonne tief und irgendwie obszön
In ihrer Torschlusspanik,
Spinnenfäden fliegen durch die Morgenluft
Und setzen sich dem blondgefärbten Lehrerinnenrest
Auf Kopf und botoxlahme Züge.
Widerstehe dem September,
Fürchte den Oktober
Und umarme Regenwolken
Wie ein kühles Bett im Juli.
Buntes Laub ist saisonaler Bäumisch-Dialekt
Bedeutet: tot. Zum Fressen
Freigegeben und
Kastanien zu begraben.
Hängt die reifen Damen
An die Oberleitung,
Uns vor dieser Jahreszeit
Zu Warnen.
Ich hab mich gerade gefragt, wie man eine Folge sooooo an die Wand fahren kann. Keine Struktur, Publikumsbeschimpfung und Zynismus. Und das zu einem Thema, dass ich eigentlich feiern wollte. Du hast vielleicht schon ein oder zwei Folgen dieses Podcasts gehört und weißt: Es ist nicht immer so schrecklich. Und der Ablauf ist meist so, dass nach einem lustigen und einem seltsamen Reimdingsi meist noch irgendein gefälliger „Rausschmeißer“ kommt. Ja, stimmt schon. Der Spätsommer und der Herbst sind paradoxerweise das, wofür es sich wirklich zu leben lohnt. Alles andere ist mehr oder weniger lästiges Beiwerk. Und du magst das jetzt glauben oder nicht, pathetisch finden oder einfach nur abgeschmackt, aber es ist auch die Zeit, in der ich mir vornehme ein besserer Mensch zu werden. Punkt.
Oktober
In der kalten, köstlichen Oktoberluft
Hinter dem Geflecht der Körbe am Feldrand
Vor dem flackernden Kartoffelfeuer
Spielt ein Schattentheater
Aus tanzenden Kindern und dem letzten Staub der Ernte
Dein Kopf ist gebettet auf einem Stapel frischer Jutesäcke
Deine Lippen schmecken nach Erde
Und deine Augen lachen
Dein Mund sagt lass uns gehen
Wo es weiche Leinenwäsche gibt
Eine warme Dusche und ein Bett
Wo du schön sein kannst und warm
Weit öffnest du das Fenster
Um die köstliche Oktoberluft zu schmecken
Den Geruch des Feuers und der duftenden Kartoffeln
Die Rufe der Kinder zu hören
Und den letzten Staub der Ernte
Vor dem Feuer tanzen zu sehen
Bevor der Tau sich auf die Körner legt
Bevor sie wieder eins sind mit dem Feld
Und alles endet