Meine Muse küsst mich nicht
Sie saugt mich aus, bis etwas bricht.
Meist ist es nur der Kiefer, der
Kurz aus- und wieder einrenkt, wer
Will das nicht auch mal? Keiner? Doll!
Dann knutsch ich weiter, Rock’n’Roll…
Hi Matthias hier. Wie sahen Deine Mathearbeiten aus? Damals? Inne Schule. Meine fingen immer ganz vielversprechend an. So ein bisschen wie die Mappen am Schuljahresanfang. Alles neu und sauber und getränkt vom Geist, jetzt alles richtig und ordentlich zu machen. Bis der zweite Schultag kam und alles war wie immer: Hefte verknickt, irgendwo schimmelte ein Salamibrot und das halbe Hanuta von Andrés Geburtstag tünchte von unten das Physikbuch in zartes Braun. Bei den Mathearbeiten konnte man den Verfall quasi live miterleben. Die sauber aufgestellte Rechnung zu Aufgabe 1, die Nebenrechnung gut strukturiert mit Bleistift auf einem Einlegezettel daneben. Dann Aufgabe 2, stopp, stimmt! Fehler! In Aufgabe 1 was übersehen. Sauber durchgestrichen, Sternchen dran, weil unten schon Aufgabe 2 angefangen war, also mit genügend Sicherheitsabstand zu Aufgabe 2 wieder Sternchen und zweiter Versuch zu Aufgabe 1. Puh, gerettet. Aufgabe 2 fortgesetzt, Mist, doch zwei Rechenschritte mehr als geplant, also möglichst großräumig um den Sternchenteil von Aufgabe 1 herumrechnen und die Nebenrechnung jetzt bloß nicht mit den Ergänzungen zu Aufgabe 2 vermischen. Ah, Mist, schon passiert. Egal, sind ja nur Nebenrechnungen. Aufgabe 2 erledigt, hat aber viel länger gedauert als gedacht und das Ergebnis hat überraschend viele Stellen hinter dem Komma, sehr viele. Ahhh! Zum Glück, Fehler doch noch gefunden, alles kann so stehen bleiben, nur ein paar Zahlen müssen ausgetauscht werden. Bumms, nix passiert. Außer: Hab ich das in Aufgabe 1 dann nicht auch falsch gemacht? Problem: Aufgabe 1 ist wegen der Umkreisungschallenge von Aufgabe 2 schon reichlich klein und – ich sach mal – „auf Kante geschrieben“. Weiß du was, wir hatten ja diesen Vorsatz, dass es diesmal NICHT so endet, wie sonst, sondern dass einmal alles gut und strukturiert und richtig ist. Wieviel Zeit kann das schon kosten? Die Ganze Seite 1 wird rausgerissen, neue Überschrift: „Mathematikarbeit Nr 1, Klasse 8c“ und alles sauber übertragen. Fast ohne Fehler, Durchstreichen und Killern. Endlich: Aufgabe 3. Versteh ich nicht. Fünf Minuten wirres Kritzeln auf den Nebenrechnungszettel, der inzwischen wie der Rosetta-Stein aussieht. Keine Chance. Aufgabe 4. Ich versteh nicht mal den Teil bevor die Fragen kommen. Berthold hat eine hinreichend große Zahl von Innenwinkeln eines Fünfecks bestimmt und sucht jetzt was? Den Cosinus von wem? Wo auf meinem Scheiß-Taschenrechner ist denn diese Cosinus-Taste und musste ich da nicht irgendwas umstellen? Von DEG auf RAD? Oder war das umgekehrt? Was war denn vorher eingestellt? Wieso geht’n der Rechner dauernd wieder aus, ich hab die Solarzellen doch gestern extra geputzt. Ist das da Hanuta-Rest auf der roten Folie?
Ich weiß nicht, wie lange du das aushältst, mir kräuseln sich schon beim Gedanken an diese Situationen die Fingernägel. Und heute hatte ich was ganz Ähnliches. Ganz ohne tickende Uhr an der Wand und einen stinkenden Zottel am Pult, der sich was grinst bei der Betrachtung schwitzender Pubertätsopfer. Ich wollte einfach nur wissen, ob an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort im 17. Jahrhundert zufällig gerade Vollmond war. Gegooglet, nix gefunden! Die ganzen Internetrechner hören 19- oder 18-hundert auf. Also selbst gerechnet. Ich weiß, dass der erste Vollmond der 20. Jahrhunderts im Januar am… Wenn die Umlaufzeit des Mondes um die Erde 27 Tage 7 Stunden und ein paar zerquetschte sind, dann muss ich doch nur die 365 Tage, ach nee, die Schaltjahre! Wann is’n noch mal Schaltjahr und waren die glatten Hunderter jetzt ausgenommen oder eben gerade nicht…
3! VERFICKTE! STUNDEN! hab ich da gesessen und endlich herausgefunden, dass am 30. November 1618 in der niederschlesischen Stadt Schweidniz, heute Świdnica gerade so abnehmender Vollmond war. UND! DAS! WAR! FALSCH! Er nahm zwar ab, war aber nur noch halb, ich hatte mich um 6 Tage verrechnet und hab keine Ahnung warum, aber die Internetseite, auf ich eigentlich nur nachschauen wollte, wo und wann der Mond aufgegangen ist, die konnte zufällig auch Vollmonde im 17. Jahrhundert überall auf der bekannten Welt ausrechnen und der Mond, nur mal FYI, der geht natürlich immer im Osten auf, die Erde dreht sich da nicht für die Sonne in die eine Richtung und dann für den Mond auch mal in die andere Richtung, damit der, weiß nicht, im Norden aufgeht. Und jetzt, wette ich, willst du ENDLICH VERFICKTE SCHEIßE NOCH EINMAL WISSEN, WARUM ICH DICH HIER SEIT 5 MINUTEN MIT EINER SO DÄMLICH LANGWEILIGEN GRÜTZE LANGWEILE und ich sag’s wie’s ist: Ich mach das, weil heute sonst einfach nix anderes passiert ist und Leute vor Computern isch nun einmal mit irrelevanten Dingen beschäftigen nur dass einige einen Podcast darüber machen, den du Trottel auch noch abonniert hast und das hast du jetzt davon! Aber um wenigstens einen Faden noch kurz weiterzuspinnen. Einer meiner Mathelehrer, einer von diesen stinkenden Zotteln, hatte für sowas immer so einen unglaublich innovativen Spruch mit „Krauser Kopf, krause Rechnungen…?“ auf Langer, irgendsoeine Tantenscheiße, die nahelegt, dass Leute mit Locken nix ordentlich machen können, was umso ärgerlicher war und ist, als es bei mir absolut stimmt und ich auch noch Linkshänder bin… Das machts alles noch viel Klischeehafter und… Ach. Scheiße.
Urania Propitia
Ich bin in den Sommer geflogen
Auf Google Maps weit in den Osten
Nach Swidnica und bin per Streetview
Durch Gassen gewandert
An Autos vorbei und Geschäften
Hab Menschen in T-Shirts ein Eis schlecken sehen
Und goldenenbrokatevangelische Kirchen
Bin ziellos gestreift und gestriffen
Und weiß jetzt, dass Rynek i Ratusz
Der Markt und das Rathaus sind
Und dort, auf einer Bank
Hab ich sie sitzen gesehen
Wie eine Klavierlehrerin
Ganz wie so ein Fräulein im Western
Das morgens am Schultor die Kinder begrüßt
Mit Globus und Buch auf den Knien
Urania Propitia
Und ihre Augen zum Himmel gerichtet
Iwo, hat zum Rossmann geguckt
Braucht Brillenputztücher und Wein
Und Red Bull
Wird spät heute Nacht
Und Kondome
Denn Sterne und Liebe
Gibt’s reichlich
Und Mond und Kometen
Doch Rossmann hat zu
Hab ich also direkt vor ihr gestanden, den Rossmann im Rücken und das Witzige ist, die Menschen auf dem Platz: Niemand verpixelt, alles knackescharf, nur das Gesicht des Denkmals von Maria Cunitz auf dem Marktplatz von Swidnica ist verschwommen. Urania ist übrigens die Muse der Astronomie und Maria hat ihr Buch über die Berechnung der Planeten- und Sternpositionen in Ermangelung eines Verlags einfach selbst drucken lassen. Been there, done that, kann ich da nur sagen und freue mich, in so edler Gesellschaft zu sein. Tschüss.