EKW063 Rhetorikrepublik Detmold

TL;DR „Gerade in den heutigen Zeiten“ passt eigentlich immer. Denn irgendwelche Zeiten sind ja immer und irgendwas ist ja auch immer in diesen Zeiten und also nimmt man die gerade im Schwange sich befindende Zeit als eine, die ein „gerade in den heutigen Zeiten“ gut gebrauchen kann.

Ich hätt, wär ich hier Präsident /
Die Inauguration verpennt /
Weil dieser Wörterkoffer hier /
Mir meinen Schlaf raubt. Glaubt es mir /

Hi, Matthias hier. Inaugurationen, oder? Hammerous, wie der Amerikaner sagt oder auch Hammereux, wenn du eher ins Frankophile tendierst. Ich hab heute naturellement mitangesehen, wie Donald Trump nicht mehr erwähnt und Joseph R. Biden Jr. zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Dingenskirchenhausen vereidigt wurde. Lady Gaga hat gesungen und Jennifer Lopez auch. Und jetzt kommst du, Frank-Walter Steinmeier. Weniger Show, wird der Frank-Walter jetzt vielleicht sagen, steht einem deutschen Staatsoberhaupt, auch und gerade in den heutigen Zeiten, gut zu Gesicht. Auch und gerade, das ist so eine Wendung, die hat meiner Erinnerung nach Gerhard Schröder in die deutsche politische Kommunikation eingeführt. Zumindest hat er sie andauernd verwendet. Und womit? Mit Kalkül. Weil „auch und gerade“ immer passt! „Auch und gerade ist die Steigerung von „gerade“, dessen mutmaßlich häufigste politische Verwendung gerade in den heutigen Zeiten gerne in ebem jenem Satz geschieht. Diese Wendung kommt sogar noch vor dieser Leerhülse: „In Zeiten knapper Kassen.“ Ja. Nun. Klamüsern wir die Sache also einmal auseinander, diese Zeit sollte man sich auch und gerade an Tagen wie diesem nehmen:

„Gerade in den heutigen Zeiten“ passt eigentlich immer. Denn irgendwelche Zeiten sind ja immer und irgendwas ist ja auch immer in diesen Zeiten und also nimmt man die gerade im Schwange sich befindende Zeit als eine, die ein „gerade in den heutigen Zeiten“ gut gebrauchen kann. Beispiel: Beerdigung Tante Erna, Einladung zum Leichenschmaus nach der Beisetzung.
„Gerade in den heutigen Zeiten sollten wir nicht vergessen, dass Gemeinsamkeit und ja, auch Lachen, Essen, sich Erinnern, wichtige Elemente unseres Gemeinschaftslebens sind.“
„Alter, mach’n Kopp zu, es is Corona! Das Essen ist gestrichen!“
„Auch und gerade in Zeiten wie diesen…“
„GESTRICHEN!“
„Ich denke, dass in Zeiten knapper Kassen…“
„Alter, wir schwimmen gerade im Geld. Ist zwar nur geliehen, aber die Kassen sind nicht knapp, die randvoll mit zu Minuszinsen geliehener Knete!“

Das „Auch und gerade in Zeiten knapper Kassen“ ist die Nullphrase der öffentlichen Rede in Deutschland. Schlimmer aber, es ist zugleich auch der Höhepunkt rhetorischer Kunst der politischen Rede in Deutschland. Mehr kommt da nicht. Wenn Gerhard Schröder und sein Schüler Frank-Walter mit ihrem „auch und gerade“ nicht mehr weiterkommen, werden die Ärmel hochgekrämpelt, die Hand zur Faust geballt und der Text der Rede wird gebrüllt. Das soll Volksnähe, Dringlichkeit und Tatkraft signalisieren. Ja, Kinder, dafür haben wir Euch das Jurastudium aber nicht bezahlt. Und von Frau Merkel reden wir mal besser nicht. Die mag zwar Qualitäten haben, aber ihr rhetorisches Talent hat doch nicht mal zur Klassensprecherin gericht. Oder? War DDR, jetzt, nech? Weiß man nicht. Die DDR war da ja komisch. Der Amerikaner dagegen hält Reden wie frisch aus dem Rhetorikkurs der Uni gepellt. Und warum? Weil er, der Amerikaner, besser gesagt der amerikanische Redenschreiber, eben genau das ist: Frisch aus der Uni gepellt oder zumindest irgendwann mal eben dort ausgebildet. Dreischritte und Akkumulationen, hier und da ein Klimax, Anekdoten, persönliche und lokale Bezüge, geschichtliche Zusammenhänge, Metaphern, rhetorische Fragen: Eine amerikanische Präsidentenrede VOR TRUMP, auch und gerade die von Präsident Obama waren gespickt davon und darum so viel besser als Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel und ja, auch und gerade Frank-Walter S. aus D. D. wie Detmold, by the way, das liegt zwischen Bad Salzuflen und Paderborn, genau an der Werre, einem völlig unterschätzten Fluss im David-Lynch-Gedächtnis-County Lippe.

Lippenlesen

Ich lese in der Lippe:
Die Hildegard ist tot.
Sie treibt im Fluss, die Hippe,
Und färbt das Wasser rot.

Ob sie hineingefallen
Und wo und wie und wann
Bleibt offen, alle hoffen,
Dass das so bleiben kann

Des Flüssleins neue Zierde
Die welke Hildegard
Treibt ohne jede Würde
Zum Datteln-Hamm-Kanal

Und doch verfehlt sie diesen
Wie blöd kann man denn sein?
Stattdessen wird sie fließen
Bis in den schönen Rhein

Der bringt sie schließlich sicher
Durch Holland, bis ans Meer
Dort sitzt sie einem kecken
Delfin im Rachen quer

Und als der schließlich zuckend
Zu Boden sinkt und stirbt
Ist Hildegard zerfallen
und alle sind gerührt

Okay, wenn du wüsstest, WIE wenig ich geschlafen habe letzte Nacht, dann tätest, tatest, tütest du nicht so erschrücklich das Näschen rümpfen. Du würdest vielmehr aus lauter Sorge um mein Wohlbefinden bei der im Impressum angegeben Wohnadresse anrufen und dann feststellen, dass Du meine Mutter am Telefon hättest, der ich meinen derzeitigen Aufenthalt immer nur alle paar Monate mitteile, damit sie mir die gesammlten Abmahnanwaltsbriefe postlagernd in eins meiner finnischem Poetenexile nachsenden kann. Ich hab jedenfalls ein bisschen geweint, als Kamala Devi Harris heute als Vizepräsidentin von Duderstadt vereidigt wurde und morgen wird’s dann auch wieder noch schlimmer. Tschüss.

Versöhnungsangebot an einen missverstandenen Expräsidenten
Furz