EKW079 Hiesiges Kennzeichen

TL;DR Eigentlich ist nichts passiert. Aber Du kennst mich, Du weißt, was ein „Eigentlich“ bedeutet. Dass es alles bedeutet außer: Nichts.

Winternachmittag

Die Spuren verlieren sich abseits vom Weg
Ein Sonnenstrahl zwischen den Zweigen
Schneeknirschende Stiefel mit leichtem Gepäck
Und Misteln erwürgen zwei Weiden

Ein Krähenschwarm harrt in den Wipfeln am Fluss
In starrendes Schweigen gehüllt,
Ein Pärchen, zwei Hunde, ein einsamer Gruß,
Die Sohlen versinken im Feld

Zwei Ratten am Ufer, sie schlendern hinfort
Aufs Eis, gerade abseits genug
Was bleibt ist der Abschied, die Sprache, das Wort
Der Groll und das Hadern, die Wut

Ein Bussard stößt tief in die Kronen hinab
Die Krähen verschwinden im Wald
Die Ratten erstarren, es bleiben nur grad
Noch die Augen, gerötet und kalt.

Hiesiges Kennzeichen

Eigentlich ist nichts passiert. Aber Du kennst mich, Du weißt, was ein „Eigentlich“ bedeutet. Dass es alles bedeutet außer: Nichts. Ich kann Dich förmlich sehen, wie Du mit den Augen rollst. Denkst: Komm zum Punkt. Aber dieses Mal irrst Du Dich. Denn „Eigentlich nichts“ bezeichnet in diesem Fall das Eichhörnchen (das rein von der Größe her einem „Nichts“ bedeutend näher kommt als unendlich viele, nachweislich größere Dinge. Wie: ein Mann, ein Flugzeugträger, ein Meteor, eine Supernova, ein Schwein, oder ein Taliban).

Dieses Mal also das Eichhörnchen, das nicht da war.

Dabei war es sonst immer da, zumindest, wenn ich eine Zeit lang am Fenster saß und Ausschau hielt. Nicht aber an diesem Tag und auch nicht an den folgenden, so dass seine Nichtanwesenheit eine zunehmende Irritation meines Tagesablaufs bedeutete. Ich muss das vielleicht klarstellen: Wir reden von einem Lebewesen mit festen Gewohnheiten und einem klar begrenzten Lebensraum. Ich habe mich ein bisschen eingelesen. Eichhörnchen tun so etwas eigentlich nicht: Ausbleiben. Wenn sie nicht gerade Winterruhe halten, sind sie da. Beziehungsweise: Wenn sie keine Winterruhe halten und dennoch nicht da sind, sind sie nur kurz mal weg. Futtersuche. Partnersuche. Aber es war bereits Dezember. Nicht die Zeit für Partnersuche. Und die Futtersuche war meinen Beobachtungen nach weitgehend abgeschlossen. Die Futterverstecke waren seit Langem gut gefüllt mit Nüssen und Samen, und der Kobel oben in der großen, zerfledderten Fichte voll mit Blättern und weichem Moos. Jetzt war nicht mehr viel zu holen.

Deine Augen: Sie rollen schon wieder. Aber genau das war passiert, völlig gegen alle Gewohnheiten. Statt dem Eichhörnchen, das ich jeden Tag durchs Fenster beobachten konnte, war da: Nichts. Und ich starrte noch ein wenig und war dann ebenfalls kurz mal weg. Partnersuche. Futtersuche. Doch es war bereits Dezember. Nicht die Zeit also. Hätte man wissen können.

Als ich nach einigen kurzen, grauen Tagen wieder zurück kam, sah ich das Eichhörnchen unter einem Auto liegen, direkt vor dem Haus. Sein Zustand war noch erbärmlicher, als der des Autos, unter dem es lag. Wir reden nicht von einem einfach nur etwas ungepflegten oder älteren Modell. Sondern einer regelrechten Ruine von einem Auto. Ein dunkelgrauer Golf, hiesiges Kennzeichen, mit Beulen und Lackschäden an allen Seiten. Ein Reifen war platt, die Heckscheibe hatte einen Sprung und die TÜV-Plakette war seit neun Monaten abgelaufen. Ja, ich habe mir die TÜV-Plakette angeschaut, auch auf die Gefahr hin, dass Du mich einen Tüvplakettenableser nennst. Es interessierte mich einfach. Im Inneren des Autos lagen Stapel von Papier herum, zum Teil sauber in Folie gepackt wie zur Auslieferung, zum Teil völlig durcheinander. Daneben Kaffeebecher, Süßigkeitenverpackungen, leere Tabletten- und Zigarettenschachteln. Mir war der Wagen vorher nie aufgefallen, obwohl er direkt vor meiner Haustür, auf der anderen Straßenseite am Bürgersteig geparkt stand. Aber Du kennst die Gegend, hier parken viele Autos, auch viele alte. Und da ich selbst keins besitze, kümmere ich mich auch wenig um die anderen. Tatsächlich musste der Wagen schon längere Zeit hier parken. An den Scheibenwischern hatte sich totes Laub festgesetzt.

Der Kadaver des Eichhörnchens lag vor dem linken Hinterrad, die Hinterläufe unter dem Reifen (dem platten Reifen) eingeklemmt. Was die Dezemberkälte gnädig an Verwesung verzögert hatte, schienen vertretungsweise die Ratten erledigt zu haben. Was sollte ich tun? Meine Nachbarin, die ein Stockwerk unter mir wohnt, kam mit dem Fahrrad vorbei. Ob ich mich für die Verrückte interessiere, rief sie mir im Vorbeifahren zu, dann stieg sie ab und schob zurück. Die Verrückte? Ja, der das Auto gehört. Ob ich sie denn nie sehe, wenn sie nachts manchmal um ihr Auto herumschleicht. Nein, sagte ich, ich habe mein Fenster nach Hinten, zu der Fichte im Garten. Ja dann, sagte sie. Die Frau habe mal schräg gegenüber im Copyshop gearbeitet, aber jetzt nicht mehr. Hat noch den ganzen Kram aus dem Laden im Auto. Irgendein Zerwürfnis. Sie komme manchmal nachts her, gehe um den Wagen herum, setze sich manchmal auch hinein. Seit Monaten ginge das schon so. Ich zeigte auf das Tier. Es sieht so aus, sagte ich, als seien die hinteren Beine eingeklemmt. Wie kann das sein, wenn der Wagen nicht bewegt wurde? Ja seltsam, sagte die Nachbarin. Sie schob ihr Fahrrad durch das Gartentor und kam mit einer Schaufel und einem Plastikeimer zurück.

Abends brachte ich mein Bettzeug ins Wohnzimmer, das zur Straße hin geht. Das Sofa war nicht besonders bequem, aber ich wollte wenigstens ein paar Stunden aushalten und schauen, ob am Auto etwas passiert. Doch sie kam nicht zurück. Nach zwei Wochen fuhr früh morgens ein Abschleppwagen vor und lud den Golf auf die Ladefläche.

Das Sofa habe ich übrigens zum Speermüll gebracht. Seitdem steht mein Bett direkt am Wohnzimmerfenster, so dass ich nachts, wenn ich nicht schlafen kann, auf die Straße schaue. Jetzt, wo morgens niemand mehr den langen, dünnen Ast vor meinem Fenster entlangläuft, um mir beim Aufwachen zuzuschauen, finde ich nichts mehr am Blick nach hinten. Ich weiß, dass Du es mochtest, morgens im Bett fast wie in einer Baumkrone aufzuwachen. Aber die Straße ist eigentlich besser, jetzt. Ja, ich weiß.